Forscherteam stellt Ideen für eine lebenswerte Straße der Zukunft vor
Beim Straßenfest in Gelsenkirchen können Bürger*innen ihre Meinung zu Entwürfen sagen. Projekt des Wuppertal Instituts, von EGLV und Zukunftsinitiative "Wasser in der Stadt von morgen" und des Planungsbüros MUST
Gelsenkirchen. Mehr Grün, mehr Platz zum Spielen für Kinder, mehr Raum für Begegnung und weniger für Autos: So könnte eine lebenswerte Straße der Zukunft aussehen. So könnte die Lothringer Straße in Gelsenkirchen aussehen. Ein Projektteam des Wuppertal Instituts (Gesamt-Koordination), der Emschergenossenschaft und des Planungsbüros „MUST“ hat Entwürfe dazu erarbeitet. Bei einem Workshop am vergangenen Wochenende ging es nun darum: Was sagen die Anwohner*innen und Bürger*innen dazu?
Wer am Samstag oder Sonntag durch die Lothringer Straße in Gelsenkirchen gelaufen ist, dem zeigte sich ein anderes Bild als sonst: Eine Allee aus Topf-Bäumen säumte die Straße, Kübel mit bunten Blumen und Rollrasen auf dem Asphalt sorgten für eine ganz andere Atmosphäre, Spiele, eine Tischtennis-Platte, ein großes Schachbrett, Bänke, Sitzsäcke und Liegestühle luden zum Verweilen ein. Dafür war die Straße am Wochenende auf dem Abschnitt gesperrt, an dem sich auch die Städtische Kita Lothringer Straße und der Spielplatz befinden. Was auf den ersten Blick nur wie ein fröhliches Straßenfest wirkte, sollte vor allem der Bürger*innen-Beteiligung für einen möglichen zukunftsträchtigen Umbau der Straße im Stadtteil Rotthausen dienen.
Denn die Lothringer Straße ist eine von zwei Straßen, die im Mittelpunkt des Projekts „Lebenswerte Straßen, Orte & Nachbarschaften“ (LesSON) stehen (die andere Projektstraße ist der Neue Graben in Dortmund). Ein Team des Wuppertal Instituts, der Emschergenossenschaft und der MUST Städtebau GmbH untersucht mit Fördermitteln des NRW-Ministeriums für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Umweltschutz, was eine lebenswerte Straße ausmacht.
Folgen des Klimawandels abmildern
Kriterien dafür: Es soll ein lebenswerteres und gesünderes Wohnumfeld geschaffen werden, welches den Bedürfnissen der Bewohner*innen mehr Rechnung trägt. Gleichzeitig sollen die Folgen des Klimawandels abgemildert werden (Hitzeperioden, Starkregen), indem auf weniger versiegelten Flächen Regenwasser vor Ort versickern und verdunsten kann, um so zur Kühlung beizutragen und indem durch Parkraum- und Verkehrsreduzierung dem Klimawandel etwas entgegengesetzt wird. Der Aspekt des klimagerechten Umbaus von Straßen ist ein wesentliches Ziel der Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“ von Emschergenossenschaft und Lippeverband sowie Städten, weshalb die Initiative Partner in dem Projekt ist. Die Ergebnisse aus Dortmund und Gelsenkirchen sollen auch als mögliche Blaupause für die Umgestaltung von anderen Straßen in der Region dienen.
Neben EGLV, dem Wuppertal Institut und MUST ist auch die Stadt Gelsenkirchen mit an Bord, die die Notwendigkeit einer Sanierung der Lothringer Straße bereits seit langem erkannt und vorbereitet hat. In der Entwicklungsstrategie für den Stadtteil Rotthausen stellt die Neugestaltung der versiegelten Straße daher eine Schlüsselmaßnahme dar. Durch die ökologische Umgestaltung und den Umbau zu einer „Familienstraße“ soll der Lebensraum Straße zukünftig von den Menschen zurückerobert werden. Wie genau das aussehen soll, darum geht es in der aktuellen Phase des „LesSON-Projektes“, in der die Meinungen der Bürger*innen zu den ersten Umgestaltungsentwürfen eingeholt werden.
Meinung der Bürger*innen zu den Entwürfen
Am Samstag und Sonntag gab es an drei Pavillons die Möglichkeit für Anwohner*innen und Bürger*innen, sich die Entwürfe anzusehen, mit Projektverantwortlichen ins Gespräch zu kommen und Statements auf Pinnwänden zu hinterlassen – unterstützt von Mitarbeiter*innen des Familienzentrums, des Bürgervereins Rotthausen, des Quartiersbüros der Stadt Gelsenkirchen jeweils mit einem eigenen Stand sowie der Stadtverwaltung. „Was gefällt Ihnen an den Entwürfen? Was fehlt Ihnen?“, fragte das Team um Projektleiter Dr. Steven März die Besucher*innen.
Die konnten sich die Ideen für ihre Straße ansehen. Es gibt drei Zukunftsbilder mit jeweils einem Schwerpunkt: Mehr Raum für Grün, mehr Raum für Aktivitäten und mehr Raum für Begegnung. Die Zukunftsbilder greifen unterschiedlich stark in die bisherige Straßenführung ein, der Entwurf für mehr Begegnung geht dabei am weitesten: Hier enden die Zufahrten zu dem Straßenabschnitt jeweils in einer Sackgasse, es wird ein zentraler, begrünter Platz mit Sitzmöglichkeiten geschaffen. Bei den beiden anderen Entwürfen gibt es noch eine Einbahnstraßenführung. Das bedeutet aber trotzdem eine deutliche Verkehrsberuhigung und Bäumen, Beeten, Spielgeräten oder festen Tischen sowie Stühlen wird viel mehr Platz eingeräumt.
Die Reaktionen der Besucher*innen beim Straßen-Workshop reichten von vollster Zustimmung bis hin zu Skepsis. Die meisten Anwohner*innen haben die unterschiedlichen Entwürfe sehr positiv eingeschätzt und einige betonten, dass dies auch eine große Chance für die Lothringer Straße ist. Positiv wurde vor allem auch gesehen, dass durch den Umbau und die Sperrung der Straße am vergangenen Wochenende besser erfahrbar wurde, wie es bei einer Umsetzung der Ideen aussehen beziehungsweise sich anfühlen könnte. Einige Anwohner*innen sehen die Entwürfe vor allem im Hinblick auf einen möglichen steigenden Parkdruck kritischer. Des Weiteren wird befürchtet, dass die Sitzgelegenheiten in der Straße zu einer Zunahme von nächtlichem Lärm und Müll führen könnten – das sei schon jetzt auf dem Spielplatz ein Problem, so ein Nachbar.
Autos nicht so viel Raum geben
Fast alle Besucher*innen und Anwohner*innen finden es sehr positiv, dass mehr Platz für Kinder und Grün geschaffen werden und den Autos nicht mehr so viel Raum gegeben werden soll. Ohnehin würden in der Straße zu viele anwohnerfremde Kleinlaster und Anhänger abgestellt. Mehrmals kommt an den Tagen die Forderung von Seiten der Bürger*innen, dass ein Umbau der Straße allein nicht ausreiche, sondern dass es ein Kümmerer-Konzept geben müsse: Wer hat im Anschluss einen Blick auf die Pflanzkübel und die Orte der Begegnung, damit diese nicht vergammeln, war eine der Fragen. Konzepte wie Patenschaften der Bewohner*innen für Pflanzbereiche oder Straßenraum wurden von diesen eingebracht und diskutiert.
Die Anregungen und Meinungen der Bürger*innen werden nun ausgewertet und fließen in die Entwürfe ein. Ein tatsächlicher Umbau der Lothringer Straße nach solchen Entwürfen müsste die Zustimmung der örtlichen Politik finden.
Weitere Informationen auf www.lebenswerte-strasse.de
Die Zukunftsinitiative
Die Emschergenossenschaft ist ein öffentlich-rechtliches Wasserwirtschaftsunternehmen, das nach dem Genossenschaftsprinzip Aufgaben für das Gemeinwohl erbringt. Mit der 2014 gegründeten Zukunftsinitiative (ZI) „Wasser in der Stadt von morgen“ arbeitet die Emschergenossenschaft zusammen mit den Städten an einer wasserbewussten Stadt- und Raumentwicklung. Teil der Initiative ist das Projekt „Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft“ der Ruhrkonferenz des Landes Nordrhein-Westfalen, an dem sich seit Anfang 2020 alle Wasserverbände und Kommunen der Region (RVR-Raum) beteiligen. Die ZI-Serviceorganisation bei der Emschergenossenschaft setzt mit den Städten Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels um. Für den klimafesten Umbau der Städte in den Grenzen des Regionalverbandes Ruhr (RVR) stehen bis 2030 rund 250 Millionen Euro zur Verfügung. Bis 2040 sollen 25 Prozent der befestigten Flächen abgekoppelt werden und die Verdunstungsrate um 10 Prozentpunkte gesteigert werden. Stadterneuerung, Quartiersumbau, Wasserwirtschaft und Stadtnatur sind die tragenden Säulen der ZI-Serviceorganisation.
Das Wuppertal Institut
Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie wurde 1991 vom Land Nordhein-Westfalen gegründet und erhält als gemeinnützige GmbH eine Grundfinanzierung vom Land NRW. Am Institut arbeiten zurzeit etwa 220 Mitarbeiter*innen interdisziplinär und lösungsorientiert im Themenbereich angewandte Nachhaltigkeitsforschung. Das Projekt wird in der Abteilung „Energie- Verkehrs- und Klimapolitik“ bearbeitet und von der Abteilung „nachhaltiges Produzieren und Konsumieren“ unterstützt. Das Wuppertal Institut übernimmt unter der Leitung von Dr. Steven März die Gesamtkoordination des Projekts und ist zuständig für den wissenschaftlichen Input sowie die wissenschaftliche Begleitung. Außerdem ist das Wuppertal Institut hauptverantwortlich zuständig für die Konzeption und Durchführung der Workshops in Dortmund und Gelsenkirchen sowie für die Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit des Projekts.
Planungsbüro MUST
Die MUST Städtebau GmbH ist ein interdisziplinäres Planungsbüro für Stadt-, Freiraum- und Infrastrukturplanung mit Sitz in Köln und Amsterdam. Das Büro hat seit 1997 eine Vielzahl an städtebaulichen und freiraumplanerischen Konzepten erarbeitet und beschäftigt 25 Mitarbeiter*innen aus den Fachgebieten Stadtplanung, Landschaftsarchitektur, Geographie und Architektur. MUST erstellt die Planungsentwürfe für die beiden Straßen im Projekt und ist beteiligt an der Konzeption der Beteiligungsformate.